15. Dezember 2021

Über die komische Vorstellung, dass die Auszugsgegenreaktion der Rückstoß sei.

Hallo alle zusammen und herzlich Willkommen zu einem neuen Beitrag zum Thema Waffenkunde.

Dieses mal schauen wir uns den neusten Auswuchs der geistigen Gymnastik der Gasdruckleugner an, also jenen Individuen, welche leugnen dass direkte Gasdrucklader vom Gasdruck angetrieben werden, obwohl dies von namenhaften Experten wie Karel Krnka (1902), Robert Weisz (1912), Carl Cranz (1926), Jaroslav Lugs (1956), Dr. Germershausen (1977), Wolfgang Pietzner (1998), Peter Dannecker (2016) und Thomas Enke (2020) so gesehen wird.

Aber kommen wir mal zur neusten Theorie, mit denen die Querdenker unter den "Waffenexperten" gerade hausieren gehen. Diese besagt von mir zusammengefasst folgendes:

Wenn das Treibmittel in der Brennkammer der Patronenhülse zündet, setzt sich dieses Treibmittel in Treibgase um und diese Treibgase drücken auf den Boden des Geschosses. Dieser Druck treibt das Geschoss aus dem Mund der Hülse heraus.

Soweit alles richtig und bekannt. Es geht aber wie folgt weiter:

Da sich das Geschoss jetzt in Bewegung setzt, kommt es, dem dritten physikalischen Gesetzt nach Newton zufolge zu einer Gegenreaktion. Es wirkt also eine der Geschossbewegung entgegengesetzte Kraft nach hinten, diese nutzt die Pulvergase als fluidmechanischen Körper und drückt die Patronenhülse nach hinten.

Jetzt kommt eine besonders wichtige Stelle:

Da dies alles schon passiert, bevor das Geschoss die Hülse komplett verlassen hat, kann diese Gegenreaktion auf die Patronenhülse einwirken, bevor der Gasdruck dazu in der Lage ist. Damit nämlich der Gasdruck von sich aus auf die Hülse einwirken kann, muss das Geschoss nämlich die Hülse komplett verlassen haben*.

Die Gegenreaktion kommt also vor dem Gasdruck zum wirken.

So meinen die Gasdruckleuger zumindest jetzt dank neuer Erkenntnisse zu wissen. Das Problem ist nur, dass diese Erkenntnisse nicht neu sind. Der, oben übrigens hin hier hin physikalisch völlig korrekt, beschriebene Effekt ist schon seit Jahren bekannt und zwar als Auszugsgegenreaktion.

Es ist lange bekannt, dass er existiert aber es handelt sich dabei nicht um einen Rückstoß. Denn die Definition von Rückstoß verlangt, dass die Gegenreaktion auf einen schwereren Körper wirkt und die Patronenhülse ist in der Regel wesentlich leichter als das Geschoss.

Es existiert mit der russischen PSS sogar eine Pistole, die nach diesem Prinzip arbeitet. Aber deren Geschosse sind zum einen sehr schwer und zum anderen auch noch sehr lang. 

Bis jetzt war physikalisch betrachtet alles richtig, bis auf die Benennung als Rückstoß, aber das ändert sich, in den Auswüchsen, welche an diese Theorie angeflanscht wurden wie:

Dieser Rückstoß[gemeint ist die Auszugsgegenreaktion] ist es, der alle Waffen die keine Gasdrucklader[gemeint sind hier nur Gasdrucklader mit Laufbohrung oder Staudüse] antreibt. Es ist die REACTIO einer Bewegung der durch die Explosion in der Waffe verursacht wird.  

Und hier wird es dann auch schon kritisch und wir bekommen es mit alten Bekannten zu tun, wie dem Explosionsdenkfehler. Auch wenn man hergeht und das lateinische REACTIO anstelle des deutschen Wortes Gegenreaktion benutzt um dem Ganzen sein Genitiv-S verweigert, wirkt das nicht intelligenter oder wird dadurch richtiger. Aber Eins nach dem Anderen.

Erstens, ist die Auszugsgegenreaktion relativ schwach. Da sich das Geschoss aus dem Hülsenmund herausquälen muss, ist seine Geschwindigkeit für innenballistische Maßstäbe relativ gering. Zudem ist die Strecke meist sehr kurz. Die Strecke auf welcher die Auszugsgegenreaktion wirken kann, ist der sogenannte rotationslose Geschossweg. Dieser endet, sobald das Geschoss mit den beginnenden Feldern des Laufes in Kontakt kommt. Dabei wird das Geschoss stark verlangsamt oder sogar noch einmal komplett gestoppt, wodurch auch die Gegenreaktion entsprechend nochmal geschwächt wird oder sogar komplett aufhört zu wirken.

Erst wenn das Geschoss den Einpresswiderstand überwunden hat und im Lauf von den Treibgasen auf Tour gebracht wird, kann eine bedeutender Gegenreaktion entstehen, den wir als Rückstoß kennen, da er auf den Stoßboden der schwereren Waffe wirkt, die Hülse ist in diesem Fall nicht der Empfänger, sondern Mittler - ein wenig Metall zwischen den Akteuren. Zwischen Entstehung der Auszugsgegenreaktion und dem Rückstoß, wirkt übrigens der Gasdruck aus sich selbst als Stoßbodenkraft.

Unsere Theoretiker haben also nichts anders gemacht, als zwei Kräfte zu finden, die in ihr Bild passen, diese zu einer einzigen Kraft zu verbinden und dabei die Kraft zu überspringen, die sie, aus welchem Grund auch immer, nicht mögen.

Zweitens ist der chemische Ablauf in der Brennkammer der Patronenhülse immer noch keine Explosion, sondern eine stetige Verbrennung. Das Ziel ist es nämlich nicht, die Waffe mit einer abrupten Explosion sinnlos zu belasten und die Bewegungsenergie des Geschosses, durch die Reibung im Lauf wieder zu verlieren, sondern man will die Waffe möglichst wenig belasten und die Gase der Verbrennung möglichst lange ausnutzen, um das Geschoss durch den Lauf zu schieben.

Aber fassen wir mal die Theorie der Gasdruckleuger zusammen und stellen sie dann auf den Prüfstand.

Es kommt in der Waffe zu einer Explosion, diese erteilt dem Geschoss einen Stoß*², das Geschoss bewegt sich darauf hin. Die durch diese Bewegung verursachte Gegenreaktion bewegt den Verschluss der Waffe zurück.

Na dann gucken wir und doch diese Theorie des "Vereinigten-Rückstoßes" in der Praxis an drei Waffen an.

Hi-Point 9x19mm, eine Selbstladepistole mit reinem Masseverschluss in Form eines massiven Schlittens. Nach der oben erklären Theorie funktioniert die Pistole ohne Probleme. Dem "Vereinigten-Rückstoß" wird einfach eine große Masse entgegengesetzt, dessen Trägheit den Verschluss daran hindert die SicherheitsStrecke zu überschreiten, bis das Geschoss den Lauf der Waffe verlassen hat.

H&K VP-70 9x19mm, eine Selbstladepistole ebenfalls mit reinem Masseverschluss aber dieses mal ist die Masse des Verschlusses sehr viel geringer. Jetzt bekommt die Theorie ein Problem, denn der "vereinigte Rückstoß" ist ja genau so stark wie bei der Hi-Point auch. 

Jetzt werden eventuell einige anführen, dass die VP70 ja ein tieferes Zugprofil hat aber was daran genau beeinflusst die Auszugsgegenreaktion? Diese wird alleine von der Patrone bestimmt, also von Pulvermenge, Geschossgewicht und Auszugsstrecke des Geschosses. Eine 9x19mm Quakemaker Patrone gibt Hi-Point und VP70 genau die gleiche Auszugsgegenreaktion mit.

PM Makarov mit 9x19mm Patrone, noch extremer wird es, wenn wir uns eine mit einer 9x19mm Patrone geladene Selbstladepistole PM ansehen. Dessen Schlitten ist noch mal leichter als jener der VP70 und entsprechend der Theorie des "vereinigten Rückstoßes" müsste der Schlitten der Hi-Point genau so viel aushalten wie der Schlitten der Makarov. Dass das nicht möglich ist und der Schlitten der Hi-Point nicht so schwer ist, weil beim Hersteller noch so viel Material überschüssig war, dürfte jedem klar sein.

Also erklären wir die Waffen noch mal kurz aus der Sicht derer die an den Gasdruck glauben, also der wirklich Experten auf dem Gebiert.

Die H&K VP-70, kann deswegen mit einem leichteren Schlitten ausgeführt werden, weil ihr Zugprofil tiefer geschnitten ist. Die Auszugsgegenreaktion von 9x19mm ist zu schwach, um den Schlitten bedeutend zu bewegt. Der Gasdruck wird dadurch geschwächt, dass Gas aus dem Lauf, durch die Zugsrinnen, am Geschoss vorbei aus dem System abgelassen wird. Das abgelassene Gas senkt den Druck im Lauf, der nicht mehr mit voller Kraft über die Patronenhülse auf den Verschluss wirken kann. Der Verschluss ist weniger Krafteinwirkung ausgesetzt und benötigt so auch weniger Masse, um der geringeren Kraft widerstehen zu können.

Für die Makarov PM gilt das gleiche, nur dass der Lauf für 9,25mm Geschosse kalibriert wurde und deswegen das Gas überall an den 9x19mm Geschossen vorbeiströmen kann, deren Durchmesser nur 9,02 mm beträgt. Hier geht derart viel Gas verloren, dass dessen Kraft hinten von der Masseträgheit des keinen Verschlusses gehalten werden kann. (Bitte nicht nachmachen).

Warum die Rückstoß-Theorie in ihrer alten und ihrer angeblich neuen Theorie auch bei anderen Waffen wie Schwarzlose M1908, Mauser M1916 und H&K P7 nichts taugt, sehe ich mir ein anderes Mal an.


*Hier ist ein kleiner Fehler, um den es im Text nicht geht und deswegen hier in der Fußnote erklärt werden soll. Der Gasdruck kann auch dann von sich aus wirken, wenn dem Geschoss ein Gegenlager geboten wird. Wenn ein Geschoss mit den beginnenden Feldern des Laufes in Kontakt kommt, kann es sich von diesem sozusagen gegen die Patronenhülse abstützen und so dem Gasdruck die Möglichkeit geben, die Patronenhülse als Selbstkolben nach hinten zu treiben. 

*²Was einige selbsternannte Experten auch oft machen ist, dem Geschoss einen elastischen Stoß zu geben, das klingt zwar intelligenter, weil einige den Begriff eventuell noch aus dem Physikunterricht kennen. Ist beim einem Geschoss jedoch völlig fehl am Platz, da es sich um einen Körper handelt. Für einen elastischen Stoß braucht man mindestens zwei Körper.

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